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22.11.2010 - FREIES WORT - Lokalausgabe Hildburghausen Übersicht | Drucken

"Kopfwende" - Ein besonderes Dokument

Der diesjährige Stipendiat des Künstlerhofs Roter Ochse, Michael Jahn, präsentierte am Wochenende sein Arbeitsergebnis. Es zeigt Schleusinger zur Wendezeit und 20 Jahre danach.
Von Jürgen Lautensack


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laus D. Niemann präsentiert das Abschiedsgeschenk des Stipendiaten Michael Jahn: Eine gerahmte DVD mit dem Film \"Kopfwende\".
Schleusingen - Sollte Geschichtsaufarbeitung nicht Historikern überlassen werden statt einem jungen Filmemacher? Zumal es wie im Fall von Michael Jahn erstens um eine Zeit geht, die er selbst kaum erlebt hat und zweitens so sehr aus dem ganz privaten Leben von Menschen erzählt wird, die vielleicht Nachbar oder Freund sind? Diese Frage dürften sich einige Schleusinger gestellt haben, die sich im Laufe des Wochenendes das Filmprojekt "Kopfwende" des diesjährigen Stipendiaten im Künstlerhof angesehen haben.

Zumindest mögen sie es sich vorher gefragt haben. Und auch der junge Filmemacher Michael Jahn aus Masserberg stand mit dem Projekt vor einer großen Herausforderung. Hunderte Stunden sichtete er das alte Material, das seit Ewigkeiten in der Stadtverwaltung mehr oder weniger unbeachtet schlummerte. Es stammte von einem Kamerateam aus den alten Bundesländern, das 1989 und 1990 in Schleusingen unterwegs war und zahlreiche Bürger interviewte - zu ihrer Sicht auf die gerade untergegangene DDR und zu dem, was sie sich von der neuen Zeit erwarteten.

Erstaunlich, wie klar und ohne viele Illusionen schon damals mancher ahnte, dass die Menschen mit der soeben friedlich erkämpften Demokratie und der Freiheit auch vor ganz neuen Herausforderungen an die eigene Person und die Gesellschaft standen.

Nun, gut 20 Jahre nach den Aufnahmen, machte sich der Stipendiat des Künstlerhofes mit Ausschnitten aus den Interviews von damals auf die Suche nach jenen Menschen, die hier zu Wort kamen. Er hat sie besucht und noch einmal befragt. "Nur den wenigsten von ihnen war noch bewusst, dass es solche Interviews einmal gegeben hatte", sagte Michael Jahn im Rückblick auf seine Arbeit. Aber es gab im Grunde keinen, der sich von seinen damaligen Aussagen irgendwie deutlich distanzierte. "Die meisten standen zu dem Gesagten von vor 20 Jahren, es gab nur ganz wenige, die sich jetzt nicht mehr äußern wollten", berichtete der Stipendiat von seinen Erfahrungen.

Selbst erst Jahrgang 1985

Dabei ergab sich für ihn, der 1985 geboren wurde und also die DDR gar nicht mehr bewusst erlebte, ein tieferer Blick in das Leben in einem Staat, der nun schon lange Vergangenheit ist. "Ein merkwürdiger kleiner Staat", so heißt es in einem Kommentar zu Filmbeginn. Er deckte dabei Lebensläufe auf, für die die Wende mehr oder weniger das berufliche Aus bedeutete, aber auch einige, die sich der Chancen der neuen Zeit bewusst waren und sie nutzten. Und wieder kamen zu dem alten Filmmaterial viele Stunden neuer Interviews zusammen, die gesichtet, ausgewertet und in einem Film von einer knappen Stunde Länge komprimiert werden mussten. Darüber brach sogar der Rechner zusammen, so dass erst ein neuer, leistungsfähiger Computer angeschafft werden musste, um das Projekt ordentlich zu Ende zu bringen. Daher rührte auch die verspätete Präsentation des Endergebnisses. "Eine ungeheure Fleißarbeit", so wertete es Cornelia Graf vom Vorstand des Künstlerhofes.

"Mir war bewusst, dass es sehr zeitaufwendig werden würde", sagte auch Michael Jahn. Nahezu jeden Tag während seines Stipendiats saß er vor den Videos und versuchte danach, die Menschen ausfindig zu machen. "Obwohl ich aus der Region komme, kenne ich ja doch kaum Schleusinger, und so war mir vor allem Carmen Imber aus der Stadtverwaltung eine große Hilfe dabei, die Leute zu finden."

Er hat sie gefunden und aufgesucht, Menschen wie Klaus Döhler zum Beispiel. Die Konfrontation mit den Aufnahmen von vor 20 Jahren weckte Erinnerungen. "Es hat mich doch sehr gerührt", sagte der ehemalige Betriebsleiter des Schleusinger Elektromotorenwerkes. Und das damals Gesagte habe sich doch weitgehend bewahrheitet, hat er festgestellt.

Zur Seite stand dem jungen Filmemacher bei seiner Arbeit vor allem Achim Hess, selbst Filmautor und fachlicher Mentor des Stipendiaten. Er ist auch hauptverantwortlich für die Kommentare im Film, der Gewinner und Verlierer zeigt, aber auch zu manchem Schmunzeln Anlass gibt. Allein aus der Tatsache heraus, wie es in Schleusingen vor 20 Jahren aussah und vor allem, wie die Schleusinger vor 20 Jahren aussahen.

Ein gewagtes Projekt also, dieser Film, der "in Zeiten unangemessener Verklärung die Ursachen für die Teilung Deutschlands, die Hintergründe der DDR-Geschichte, das Leben der Menschen unter und mit dem SED-Regime sowie die Zwangsläufigkeit des Zusammenbruchs aufdecken" wollte.

Keine Verklärung

Ob das Ergebnis diesem hohen Anspruch aus dem Exposé gerecht wird, muss jeder selbst beurteilen. "Die Diskussionen und Reaktionen zum Film jedenfalls waren bemerkenswert", sagte Achim Hess. Und das sei ja auch ein Ziel gewesen, dass sich die Menschen mit ihrer Vergangenheit beschäftigen.

Und der langanhaltende Beifall bei der Premiere am Freitag im Künstlerhof zeigte es ebenso wie die vielen begeisterten Äußerungen der Zuschauer: Der Film ist gelungen. "Hervorragend! Mit hat er sehr gefallen, zumal man ja die meisten der Interviewten auch selbst kennt", sagte Dr. Ingrid Germer anerkennend.

Von unangemessener Verklärung der DDR indes ist nicht viel zu spüren. Am Ende hat Michael Jahn dennoch ein besonderes Zeitdokument geschaffen - eines nur für Schleusingen. Ein Film, wie ihn wohl nur wenige Städte vorweisen können. Und allein das war die vielen Nachtschichten wert.




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aktualisiert von Thomas G. Marzian, 22.11.2010, 08:31 Uhr
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